Filmkritik: Everest


"Es gibt sehr viele gute Gründe, die dagegen sprachen, aber eine Besteigung des Everest ist an sich ein irrationaler Akt: ein Triumph der Begierde über die Vernunft."

"Climbing Mount Everest was the biggest mistake I've ever made in my life. I wish I'd never gone."

Jon Krakauer, Journalist (von dem auch In die Wildnis stammt, die Geschichte über den jungen Aussteiger Christopher McCandless, die von Sean Penn verfilmt wurde) und Bergsteiger, war im Frühjahr 1996 im Auftrag des Outside-Magazins zusammen mit einigen anderen Bergsteigern auf dem Weg, den Gipfel des höchsten Berges der Welt zu erklimmen: Den Mount Everest. 8848 Meter - das Dach der Welt. Tatsächlich schafften es Krakauer und die meisten der anderen 32 Bergsteiger an diesem 10. Mai auf den Gipfel - doch nicht alle von ihnen erreichten danach lebend das Schutz bringende Hochlager 6. Insgesamt neun Menschen fanden an diesem Tag (und der folgenden Nacht) den Tod - unter ihnen die Leiter der beiden großen kommerziellen Expeditionen, der Neuseeländer Rob Hall (Adventure Consultants) und der US-Amerikaner Scott Fischer (Mountain Madness).

Nach einer (mittelmäßigen) Fernsehverfilmung der Geschichte und der IMAX-Dokumentation von David Breashears (die parallel zu der Katastrophe gedreht wurde) ist Baltasar Kormákurs Everest nun die erste Kinoadaption der tragischen Ereignisse. Das Drehbuch von Simon Beaufoy (Slumdog Millionaire) und William Nicholson (Gladiator) konzentriert sich dabei vor allem auf die Geschichte um das Team von Rob Hall (Jason Clarke), zu dessen Kunden auch Jon Krakauer (Michael Kelly) gehörte. Halls Freund und Konkurrent Scott Fischer (von Jake Gyllenhaal als schräger Draufgänger interpretiert) spielt hier nur eine untergeordnete Rolle. Der Film steuert zunächst langsam, dann immer schneller auf sein unaufhaltsam näher kommendes Unglück zu, die letzten 30 Minuten sind purer Nervenkitzel und emotionale Dramatik. Das ist allerdings nicht nur den großartigen Bildern von Salvatore Totino geschuldet, sondern auch den weiblichen Figuren, die am Rande des Unglücks agieren: Emily Watson spielt die Leiterin des Basislagers, Keira Knightley die schwangere Frau Halls und Robin Wright die Ehefrau von Josh Brolins Beck Weathers, einem extrovertierten Texaner. Während die Bergsteiger dem (Kälte)Tod nahe sind, bringen sie Wärme und Emotionen in die Geschichte.

Dass Regisseur Kormákur seine Darsteller zu körperlichen Grenzerfahrungen trieb, war sicherlich ebenfalls hilfreich dabei, eine glaubwürdige Dramatik zu erzeugen: Denn statt in einem sicheren, warmen Filmstudio zu drehen, wurde sowohl am südlichen Hochlager des Mount Everests wie auch in den Bergen des Südtiroler Schnalstals gedreht - in über 4.000 Metern Höhe bei eisigen Winden und Schneestürmen. Statt gemütlichem Wohnwagen, mussten sich Gyllenhaal, Clarke und Co. während der Drehpausen in großen Massenzelten mit Heizstrahlern aufwärmen, Kopfschmerzen, Atemnot und die permanente Kälte machten ihnen zu schaffen. Doch was dabei herausgekommen ist, war die Strapazen wert.

Natürlich lässt sich Vieles trotz der verschiedenen Zeitzeugen nicht mehr genau rekapitulieren. Warum ein so erfahrener Bergsteiger wie Rob Hall seine eigenen Regeln außer Kraft setzt und sein Leben riskiert, nur um einen geschwächten Kunden (John Hawkes) weit nach der letzten Umkehrzeit noch zum Gipfel zu begleiten, bleibt offen. Auch die Fragen, wieso die ebenfalls sehr erfahrenen Sherpas der beiden Expeditions-Teams sich nicht richtig abgesprochen haben (fehlende Fixseile und Sauerstoffflaschen) oder warum der zu Scott Fischers Team gehörende russische Bergführer Anatoli Boukreev (Ingvar Eggert Sigurðsson) alleine und ohne seinen Kunden zu helfen ins Hochlager zurückgekehrt ist, bleiben (mehr oder weniger) unbeantwortet. Jon Krakauer selbst erklärt diese Wissenslücken (die eben trotz mehrerer anwesender Beteiligter aufkamen) in seinem Buch In eisigen Höhen mit der Tatsache, dass der Sauerstoffmangel, Erschöpfungszustände und der Schock sich extrem auf Gehirn und somit das Erinnerungsvermögen ausgewirkt hatten. "Wir konnten uns selbst über solch grundlegende Fragen wie den Zeitpunkt des Geschehens und was wir gesagt hatten nicht einigen; nicht einmal darauf, wer überhaupt zugegen gewesen war."

Everest ist ein visuell beeindruckendes Bergsteigerdrama, untermalt mit Dario Marianellis atmosphärischer, traumhafter Musik und mit einem großen (und auch guten) Starensemble packend und dramatisch inszeniert.  Am Ende bleibt der Film vielleicht nur eine einzige Antwort wirklich schuldig: die auf die von Jon Krakauer (auch im Film gestellte) Frage, warum man sein Leben riskiert und auf den Everest steigt. Vielleicht ist es ja diese: "Remember that chap about twenty years ago? I forget his name. Climbed Everest without any oxygen, came down nearly dead. When they asked him, they said why did you go up there to die? He said I didn't, I went up there to live."

★★★★☆


Originaltitel: Everest

Schnitt: Mick Audsley

Darsteller:
Jason Clarke ... Rob Hall
Jake Gyllenhaal ... Scott Fischer
Josh Brolin ... Beck Weathers
John Hawkes ... Doug Hansen
Michael Kelly ... Jon Krakauer
Emily Watson ... Helen Wilton
Sam Worthington ... Guy Cotter
Keira Knightley ... Jan Arnold
Robin Wright ... Peach Weathers
Elizabeth Debicki ... Caroline Mackenzie
Naoko Mori ... Yasuko Namba
Ingvar Eggert Sigurðsson ... Anatoli Boukreev
Martin Henderson ... Andy "Harold" Harris
Tom Goodman-Hill ... Neal Beidleman
Thomas M. Wright ... Michael Groom

UK/USA/ICL 2015, 121 Min.
Universal Pictures / Working Title
Kinostart: 17. September 2015
FSK 12

Trailer:

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