Filmkritik: Eine Dame verschwindet

Die Prämisse von Alfred Hitchcocks Eine Dame verschwindet ist mehr als populär im Film wie auch in der Literatur: Ein Mensch verschwindet - und niemand außer einer einzigen Person kann sich an die oder den Verschwundenen erinnern. Nach und nach zweifelt der Protagonist an seinem Verstand, sein Umfeld hält sie oder ihn für verrückt oder ist Teil eines zwielichtigen Komplotts - so wie es auch hier der Fall ist. Doch wie Hitchcock hier mit dem Suspense hantiert und dennoch für ihn fast untypisch geradezu brillante humoristische Einlagen kombiniert, ist zweifelsohne äußerst gelungen.

Nachdem eine Lawine die Weiterfahrt des Zuges verhindert, sitzt eine Gruppe Reisender in einem idyllischen Berggasthaus fest. Doch als es dann endlich weitergeht, ist Iris Henderson (Margaret Lockwood) die einzige, die sich an die schrullige alte Miss Froy (Dame May Whitty) erinnern kann. Weder das Zugpersonal, von denen fast niemand ihre Sprache spricht, noch die anderen Reisenden können sich angeblich an die alte Dame erinnern. Erst der junge Dandy Gilbert (Michael Redgrave), der ein Auge auf Iris geworfen hat, bietet ihr seine Hilfe an. Und auf einmal geraten die beiden in einen internationalen Komplott hinein.

Die Kombination aus Geheimagenten- und Mysterythriller ist genau das, was Hitchcock so perfekt beherrschte, doch dass er hier auch noch eine gehörige Portion Humor mit eingebaut hat, macht Eine Dame verschwindet zu einem wirklichen Juwel in der langen und fast ausschließlich meisterlichen Filmografie des Briten. Vor allem der verschmitzt charmante Michael Redgrave sorgt hier immer wieder für Auflockerung der an sich dramatischen Atmosphäre. Die beiden wirklichen Komödianten der Geschichte sind allerdings Naunton Wayne und Basil Radford als Caldicott und Charters, zwei britische Gentlemen, die den gesamten Film über nur ein einziges Thema zu besprechen haben: Cricket. Der englische Populärsport fesselt die beiden Herren derart, dass sie für nichts und niemanden ein Auge oder Ohr offen haben, jede Verzögerung ihrer Reise lässt sie mehr verzweifeln, da sie unbedingt nach England zu einem Cricket-Spiel gelangen möchten.  Die beiden Charaktere waren so beliebt, dass sie 1985 gar eine eigene, sechsteilige BBC-Serie erhielten.

Technisch betrachtet ist Hitchcock hier ebenfalls wie so oft auf revolutionärem Gebiet unterwegs: Der gesamte Film wurde in einem gerade mal 30 Meter langen Studio gedreht - mit Hilfe von Modellen gelang es dem Regisseur allerdings, diese Beschränkungen unerkannt zu lassen. Insgesamt ist Eine Dame verschwindet einer der besten Hitchcock-Filme aus dessen britischer Frühphase, der sich nahtlos in sein Gesamtwerk einfädelt und von Anfang an nicht nur fesselt, sondern auch mit Humor und Wortwitz äußerst unterhaltsam geworden ist.

Erstmalig veröffentlicht am 27. September 2017.

★★★★☆


Originaltitel: The Lady Vanishes

UK 1938 | MGM / Gainsborough Pictures | 91 Minuten | FSK 12 | D-Start: 1. Oktober 1971
Regie: Alfred Hitchcock | Drehbuch: Sidney Gilliat & Frank Launder | nach einer Geschichte von Ethel Lina White | Kamera: Jack E. Cox | Schnitt: R.E. Dearing | Musik: Louis Levy & Charles Williams | Darsteller: Margaret Lockwood | Michael Redgrave | Dame May Whitty | Paul Lukas | Cecil Parker | Linden Travers | Naunton Wayne | Basil Radford | Mary Clare | Emile Boreo

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